Über die Vier-Raum-Theorie
Um sich der Kunst zu nähern, ist es von Zeit zu Zeit nützlich, Theorien zu verwenden, die den Zugang erleichtern können. Eine Theorie, die ich entwickelt habe und die ich in diesem Beitrag näher erläutern möchte, ist die „Vier-Raum-Theorie“. In ihr geht es um die Frage der Wahrnehmung bzw. Annahme von Räumen durch den Betrachter, aber auch um den Raum, den der Künstler im Kunstwerk anbietet. Es geht also um die Rezeption, aber auch um die Konstruktion von Bildräumen.
Die Grundannahme ist, dass es bis zu vier Räume geben kann, die voneinander unterschieden werden können. Diese Räume müssen nicht alle in jedem Kunstwerk vorkommen.
Es sind die folgenden: Farbraum, Weißraum, Leerraum und Nullraum.
Der Farbraum ist schnell erklärt. Er ist jeder geschaffene Raum, dem eine Eigenschaft in Form von Masse und/oder Struktur gegeben wird. Dies muss nicht unbedingt durch Farbe sein.
Im Gegensatz dazu teilen sich die drei anderen Räume optisch untrennbar das gleiche Raumspektrum.
Es handelt sich um die scheinbar oder tatsächlich undefinierten Räume in einem Kunstwerk. (Ein Beispiel für einen „scheinbar undefinierten Raum“ wäre, dass ein Bildträger zwar zu Beginn entworfen wurde, diese Ausführung aber keinen zwingenden Einfluss auf die Konstruktion hat.) Ihre Eigenschaften bzw. ihre Bedeutung für die Bildstruktur sind jedoch bei gleichem Vorkommen völlig unterschiedlich.
Im Folgenden werde ich die drei Räume einzeln besprechen, um ihre Bedeutung klar voneinander abzugrenzen und auch hervorzuheben.
Der Weißraum erfüllt den gleichen Zweck wie der Farbraum, stellt also Masse und/oder Struktur dar, erscheint aber anders, nämlich wie bereits erwähnt scheinbar undefiniert. Betrachtet man dies nun anhand einer Zeichnung, so könnte es sich beispielsweise um eine Fläche handeln, die als weiße Fläche erscheint, die auf dem weißen Untergrund nicht weiter ausgeführt wurde, sich aber durch den Kontext als weiße Fläche erklärt.
Diese Fläche kann jedoch auch als Leerraum gelesen oder dargestellt werden, d.h. als Raum zwischen den definierten Räumen. Dadurch verliert der Raum in der Komposition seine vordergründige Masse und/oder Struktur. Wichtig ist in diesem Fall jedoch, dass er weiterhin einen Raum darstellt. Dieser Raum ist notwendig, um die Massen zu trennen. Seine Bedeutung beschränkt sich jedoch auf die Trennung und wird daher nicht weiter definiert.
Ein weiterer undefinierter Raum ist der Nullraum. Ein als Nullraum definierter Bereich ist jedoch kein Raum im eigentlichen Sinne. Es handelt sich um den Bereich außerhalb der Darstellung. Dieser beginnt in der Regel jenseits des Bildträgers. Er markiert also bewusst eine Trennung zwischen Werk und Nicht-Werk. Dies ist jedoch nicht zwingend der Fall. So kann der Bildraum auch über den definierten Raum durch seine in Bezug genommene Konstruktion verstanden werden. Er kann aber auch trotz der Ausarbeitung in den Bildraum eindringen. Das bedeutet, dass der Raum für das Kunstwerk keine Bedeutung hat und zu dessen Verständnis ausgeklammert werden muss.
Abschließend möchte ich die Theorie auf ein Werk von Edouard Manet, das ich oben abgebildet habe, anwenden und die Relevanz dieser Theorie für die Rezeption eines Werkes aufzeigen. Es handelt sich um das Werk „Der Pfeifer“ von 1866, das seinerzeit auf großes Unverständnis stieß und immer noch stößt. Es zeigt einen Jungen in Uniform, der eine Flöte spielt. Er ist vollständig definiert. Das sind alles Räume, die uns etwas über ihre Beschaffenheit erzählen wollen. Aber wenden wir uns dem großen grau-gelben Raum zu, der die Figur umgibt. Was soll er darstellen? Weißraum? Die Andeutung eines Schattens zu Füßen der Figur gibt uns einen Hinweis in diese Richtung. Oder einen Leerraum? Ein undefinierter Raum, der dem Pfeifer Halt gibt? Doch die Figur hängt seltsam uninspiriert darin. Auch die Andeutung eines Übergangs vom Boden zur Wand scheint dem zu widersprechen.
Ich bin überzeugt, dass Manet dem Betrachter einen Nullraum anbietet. Wenn man den Pfeifer herausschneidet und ihn von allem loslöst, was sich außerhalb abspielt, entwickelt er eine unglaublich explosive Präsenz. Eine nach innen gerichtete Kraft, die von einer Welt erzählt, die in ihm und durch ihn nicht aufgehört hat zu existieren.